Freitag, 30. Dezember 2016

Verabredung mit dem Tod: Pashupatinath Tempel in Kathmandu


Eine Frau steht im Fluss, in ihrem Sari, das Wasser reicht ihr bis knapp zu den Hüften. Sie watet durchs Wasser, den Opferschalen für die verstorbenen Seelen entgegen. Sie klaubt aus einer der Schalen eine Banane heraus, hebt die Schale aus Bananenblättern hoch und kippt das eingelaufene Wasser ab. Sie setzt die Schale wieder ins Wasser und das Opferkörbchen kann seinen Weg im Strom des Flusses fortsetzen. 

Berührend. Und befremdlich. Ich bin irgendwie schockiert. Ich weiß nicht, ob angesichts der Armut und Verzweiflung der Frau im Wasser, die Opfergaben aufzuessen. Oder dem mir respektlos erscheinenden Handeln der mit sich selbst sprechenden Gestalt im Fluss. Die Opfergaben sind doch für die Verstorbenen. Oder die Götter. Oder?

Ich merke, es ist nicht so sehr wichtig zu verstehen. Aber es ist interessant zu beobachten, was die Atmosphäre und das Verhalten der Menschen hier, an diesem heiligen Ort, bei mir auslösen. Auch Nahne äußert Unbehagen. Fremde Welt. Und wir haben plötzlich kein Gespür, keinen Anhaltspunkt, für das, was angemessen ist, oder nicht. Was darf ich, wie sollte ich mich verhalten? Der Moment, in dem Fremdsein einem auch das Gefühl von Verlorenheit vermitteln kann. Orientierungslosigkeit. Ich habe keine Angst. Aber ich bin unsicher und ich gehöre hier nicht dazu. Ich arrangiere mich nach einer Weile des Beobachtens und Herumschlenderns mit der achtsamen Distanz. Ich bin Besucherin. Mir sind diese Rituale fremd. Aber ich schaue gern zu. Weil ich neugierig bin, doch meine Neugier soll niemanden verletzen.


Hinter den Ufertreppen, an denen die Angehörigen ihre Opferschalen füllen und auf die Reise schicken, führt ein Weg bergan. An vielen Schreinen vorbei, vor denen einige Sadhus mit bemalten Gesichtern sitzen. So stelle ich mir Indien vor. Kühe und Ziegen laufen auf dem Tempelgelände umher. Den großen Shiva-Tempel dürfen ausschließlich Hindus besuchen. Wir erhaschen lediglich einen Blick in den Innenhof, in dem ein goldener Stier thront, Shivas treuer Begleiter.




Es ist ein heißer Tag und wir sind froh, dass unser Taxifahrer auch ein treuer Begleiter ist und uns an verabredeter Stelle erwartet. Zurück im Hotel wählt Bhai die Option Ruheoase Innenhof und ich schmeiße mich mutig ein letztes Mal in das Abenteuer Kathmandu, um noch reichlich Mitbringsel und eine Klangschale zu erwerben.

Am Abend geht es zum Flughafen. Nachdem die letzten Rupies verbraten sind, stehen wir lange plan- und ratlos in Gängen herum, da kein Gate für unseren Flieger von „Fly Dubai“ angezeigt wird. Aber auch das geschieht letztendlich. Und nach einem Zwischenstopp in Dubai und dem Genuss diverser Marvel-Verfilmungen an Bord der Emirates, landen wir irgendwann auf Hamburgs Asphalt.




Danke, Bhai!
Danke für diese Zeit mit Dir.
Ich habe einen wunderbaren Bruder.
Einen großen Bruder.
Jederzeit wieder.

In Liebe,

Didi.

Abstecher nach Bhaktapur: Wunderwerke aus rotem Backstein und Holz


Da die Taxifahrer streiken, nehmen wir in Kathmandu einen Local Bus um ins Kathmandu Tal nach Bhaktapur zu gelangen. Nach etwa einer Stunde intensiven Verkehrserlebnisses quer durch Kathmandu und interessantem Einblick in den Fortbewegungsalltag der Nepali, sind wir in der kleinsten der Königsstädte Nepals. Wir betreten neugierig und ein wenig unsicher unbekanntes Terrain. Schnell ist ersichtlich, dass hier viele der wirklich alten Gebäude auch dem Erdbeben zum Opfer fielen, vieles ist im Wiederaufbau und Bambusgerüste gehören zum Straßenbild.


Wir stromern auch jenseits der Tempellandschaft durch das Städtchen. Kommen an einen Fluss, der uns alles andere als sauber erscheint. Am Ufer reihen sich kleine Tempel und Opferplätze.
In kleinen Gassen entdecken wir eingestürzte Häuser, die nach dem Erdbeben nicht wieder aufgebaut wurden. Schwer vorstellbar für unsereins, wie sich das anfühlen muss.















Zur falschen Zeit am schönen Ort: Auf den Spuren fast ausgerotteter Geschöpfe im Chitwan Nationalpark


Nach unserer einwöchigen Wanderung in der Annapurna-Region beschließen wir es in der nepalesischen Tiefebene entspannt angehen zu lassen. Um von Pokhara dorthin zu gelangen, trauen wir uns abermals im Bus auf Nepals schlammige Schotterpisten. Waghalsige Überholmanöver bei regem Lkw-Verkehr in einem vollen Touristentransporter, wir gewöhnen uns langsam daran. Neu ist eine Zwangspause an der Straße wegen der defekten Klimaanlage, der Busfahrer hält an mehreren abenteuerlich aussehenden Werkstätten entlang der Straße. Irgendwann findet sich ein kompetenter Schrauber und wir setzen unsere Reise durch die Schlaglöcher fort.



Der Nationalpark liegt direkt am Rapti River. Wir geben unserem Erholungsbedürfnis nach und mieten uns einen herrlichen Unterschlupf im River View Jungle Camp – mit Blick auf Fluss, Hochgras und Elefantenbad. Nach dem Ausflug in die Berge mit klarer Luft und eher milden Temperaturen, müssen wir uns erstmal an tropische Hitze und höhere Luftfeuchtigkeit in der Ebene hier gewöhnen.


Stundenlanges Frühstücken am Fluss und den Elefanten beim Baden zuschauen – das entspricht genau unserer Vorstellung von Urlaubsmodus. Doch natürlich wollen auch wir unsere Chance nicht ungenutzt lassen, hier vielleicht ein seltenes Geschöpf zu Gesicht zu bekommen. Es ist nicht die vorteilhafteste Jahreszeit für einen Besuch des Chitwan Nationalparks, denn um diese Zeit ist nur ein Teil des Parks zugänglich. Außerdem steht das Elefantengras jetzt hoch und erlaubt nur eine eingeschränkte Sicht. Nun, das ist das bekannte Los des antizyklischen Reisens, dafür sind wir keinen großen Horden an Besuchern ausgesetzt.



Bengalische Tiger, Sumpfkrokodile, Rhinozerosse – nur einige der Arten, die hier theoretisch anzutreffen sind und unter strengem Schutz stehen. Sogar Militär ist hier stationiert, doch nicht wegen der Nähe zur indischen Grenze. Wir machen zusammen mit einem britischen Pärchen eine Dschungeltour, die uns zumindest durch einen Teil der begehbaren Zone führt. Wir starten im Kanu, ziehen fast lautlos über den Fluss am Ufersaum aus Elefantengras vorbei. Als wir das Boot außerhalb des Dorfes am Ufer verlassen, beschreiten wir im Gänsemarsch – mit jeweils einem Guide vorneweg und hintenan – nicht ganz ungefährliches Gelände. Rhinozerosse gehören zu den durchaus aggressiver agierenden Genossen. Sie sehen nicht sonderlich gut, hören und riechen dafür aber umso besser. Und besonders empfindlich sind die Rhino-Damen, wenn sie Nachwuchs dabei haben. Also bewegen wir uns behutsam und fast schweigend durch die savannenähnliche Landschaft.





In Nähe des Flusses kämpfen wir uns durch einen kleinen Wald aus Elefantengras. Es ist über zwei Meter hoch und ich beeile mich, den Anschluss an meine Vorhut nicht zu verlieren, ich wäre sonst orientierungslos und verloren. Das Gras ist scharf und ich halte die Arme schützend vors Gesicht, während wir uns über schlammigen Grund weiter Richtung Fluss stapfen. Unser Guide hat ein Rhinozeros am Ufer gesichtet und winkt uns still näher zu kommen. Gespannt und vorsichtig pirschen wir uns nacheinander ans Ufer und erblicken hinter einigen Elefantengräsern ein leibhaftiges Panzernashorn! Es mampft vor sich hin und schaut gelassen über den Fluss.


Wow. Ich bin jedes Mal sehr bewegt, wenn ich ein exotisches Tier, das mir bislang nur aus Film und Büchern ein Bild war, plötzlich in der freien Natur bestaunen darf. Und es sind diese besonderen, wenn auch oft sehr kurzen, Momente, in denen sich all meine Bewunderung für ein anderes Lebewesen oder ein Naturschauspiel entlädt. Und ich dankbar und demütig vor dem stehe, was wir wohl Schöpfung nennen. Dafür bin ich unterwegs. Gleichermaßen getrieben von der Neugier und der Sehnsucht nach Wundern.


Anders ergriffen stehen wir kurze Zeit später vor dem Abdruck einer Tigerspur im nassen Waldboden. Eine sehr frische Spur. Einer sehr großen Tatze. Sagt man Tigertatze? Wir begegnen ihm oder ihr nicht mehr. Aber dieses Tier so nah zu wissen ließ mich schon respektvoll erschauern.


Unser Rückweg führt uns über die Elephant Breeding Station. Denn auch die Zahl der Elefanten ist in Nepal bedroht. Hier können die Elefantenkühe ihre Kälber geschützt zur Welt bringen und aufziehen. Ich habe nicht wirklich herausfinden können, zu was diese dann hier ausgebildet werden. Ob sie für die Elefantensafaris im Nationalpark eingesetzt werden, als Arbeitselefanten gebraucht werden oder nur für religiöse Zeremonien. Fakt ist, sie sind domestiziert. Es gibt auch noch wilde Elefanten, ab und zu stürmt wohl auch mal einer das Breeding Centre …


Hungrig kehren wir aus dem Dschungel zurück in unsere edle Hütte am Fluss. Wir entscheiden uns für ein Abendessen außer Haus, in einem nahe gelegenen Restaurant an der Hauptstraße. Wir sitzen noch nicht lange am Tisch und wollen gerade Getränke bestellen, als aufgeregt ein Kollege neben unserem Kellner auftaucht und ihm auf Nepali etwas zuraunt. „There is a rhino in the street!“ übersetzt unser staunender Kellner und deutet mit den Händen zum Ausgang. Nahne und ich gucken uns kurz verunsichert an. Ist das jetzt Touristennepp? Aber die Neugier gewinnt und wir stehen Sekunden später draußen an der Straße in der Einfahrt zum Restaurant. Ich traue meinen Augen nicht. Da stapft ein Rhinozeros die Dorfstraße entlang. Unantastbar stolziert es in aller Ruhe an Läden und Restaurants vorbei. Keines Blickes würdigt es die neugierigen Gestalten am Straßenrand. Die Hochachtung der Schwächeren kann man förmlich spüren. Die wie ein Panzer aussehende Haut des schreitenden Kolosses glänzt, es muss eben dem Fluss entstiegen sein. Ich bin zutiefst beeindruckt. Das Ego hätte ich auch gern. Ich denke nicht eine Sekunde ans Fotografieren. Und bin froh darüber, ich hätte das Bild sonst niemals so in meinem Kopf einbrennen können.


Das käme schon mal vor, klärt uns der Kellner später auf. Ab und zu kommt mal ein Rhino aus dem Park zu Besuch ins Dorf. Und solange man es in Ruhe lässt ist alles gut. Wie schön zu beobachten, dass auch die Einwohner immer noch aufgeregt und gespannt auf die einschüchternden Besucher reagieren.



An unserem letzten Tag in Nepals Tiefebene besuchen wir trotz Hitze das Tharu-Museum
in dem zu Fuß erreichbaren Dorf Bachhauli. Die Tharu sind die Ureinwohner dieser Gegend. Unauffällig und abgelegen liegt es am Rande der Siedlung zwischen Gemüsefeldern. Für die Einwohner war die Ernennung dieses großen Landstriches der Chitwan-Region zum Nationalpark ein zweischneidiges Schwert. Viele Familien mussten umsiedeln und nicht für alle veränderte sich ihr Leben zum Vorteil.




Die Rückkehr nach Kathmandu naht und wir haben beide ein wenig Horror vor den Grausen der Großstadt. Nach all den Naturschauspielen ein harter Schnitt. Doch unser Hotel verspricht eine ruhige Oase im Innenhof, die Option auf einen defensiven Rückzug ist also garantiert.




"Nepali flat": Bhai & Didi auf dem Annapurna-Panorama-Trek


Am Freitag, den 16. September packen Nahne und ich unsere Wanderrucksäcke. Wir sortieren, überlegen und entscheiden, was muss mit? Was soll und was darf, darf nicht mit? Der Rest unseres Gepäcks bleibt so lange in unserer Herberge in Pokhara. Ich merke eine angenehme Aufregung, ich schätze es ist die aus dem Dornröschenschlaf auferstandene Abenteuerlust. Lange habe ich sie vermisst. Doch jetzt traut sie sich zurück und ich freue mich auf ein besonderes Abenteuer gemeinsam mit Bhai.


TAG 1: Nayapul - Ulleri  Am Samstagmorgen geht es mit dem Taxi erst mal hinaus aus der Stadt Richtung Westen. Unser Guide heißt Raju, ist Anfang dreißig und uns gleich sehr sympathisch mit seinem verschmitzten Lächeln. Prima, wenn die Jungs sich verstehen, dann hab ich kein schlechtes Gewissen, wenn sie gelegentlich auf die Fotografin warten müssen. Ungefähr eineinhalb Stunden arbeiten wir uns über eine vom Erdbeben immer noch stark angeschlagene Straße nach Nayapul. Dort gibt es noch einen leckeren Nepali Tee, und dann starten wir. 




Wir überqueren eine breite Brücke über einen tosenden Fluss, passieren einen Ort namens Birethanti zum Einchecken auf den Trek, und finden uns dann bereits auf einem Schotterweg bergauf wieder. Wie verschluckt vom monströsen Getose des aus den Bergen herabstürzenden Wassers und des lautesten Zikadengesangs, den ich je hörte. Step by step - im allerwahrsten Sinne! - erklimmen wir Tausende von Stufen auf unserer heutigen ersten Etappe. Begleitet von eindrucksvollen Aussichten auf eine uns fremde Welt, Begegnungen mit Dorfbewohnern, Ponies, Kindern und Hühnern, Reisfeldern, unerwartet vielen Blumen, Hängebrücken und wundervollen Wolkengebilden. 






Wasser- und Atempausen nutzen wir immer gern für einen interessanten Plausch mit Raju. Er weiß viel über sein Land und erzählt gern von Lebensart, Gewohnheiten und Ritualen der Nepali. Und er ist auch Erfinder unserer neuen Spitznamen. In Nepal gibt es für jedes Familienmitglied eine bestimmte Bezeichnung, und nachdem er erfuhr, dass wir Geschwister sind, hieß es nur noch Bhai (für jüngerer Bruder) und Didi (für ältere Schwester). Ich habe beim Einkaufen auf dem Markt in Tadapani tatsächlich heraushören können, dass der jüngere Bruder seine ältere Schwester mit "Didi" anspricht, nicht mit Namen. Und das Leben als jüngerer Bruder einer älteren Schwester teilen die Jungs nun gemeinsam - es gibt viel zu Lachen!





Eine Regel in den Bergen, die wir von Raju lernen: Da, wo man schläft, isst man auch. Als wir in unserer rosafarbenen Herberge in Ulleri ankommen, haben wir 500 Höhenmeter hinter uns. Meine Oberschenkel brennen, ich bin froh um jedes Gramm, das ich NICHT noch mit in meinen Rucksack gepackt habe. Und ich bin froh, dass wir die ganzen Stufen heute schon erklommen haben - die Schweiß treibenden Steintreppen erinnern mich sehr an Sri Lankas Adam's Peak. Unter den dicken Steppbettdecken fallen mir noch vor neun Uhr die Augen zu. Der Wecker steht auf sechs.



TAG 2: Ulleri - Ghorepani (Poon Hill)  Frühstück um halb sieben. Ich versuche um diese für mich viel zu frühe Essenszeit warmen Porridge mit Obst. Die Energie werde ich brauchen. Denn um kurz nach sieben sind wir auch schon wieder treppauf unterwegs. Diesmal führt uns ein Großteil der Pfade durch dichten Wald - Rhododendronwald. Märchenhaft vewundene Äste, über denen Vorhänge aus Flechten liegen, verworrenes Wurzelwerk, das sich über den Waldboden schlängelt. Mystisch schön. Und immer begleitet uns unaufhörlich das Rauschen von Wasser eines fernen oder nahen Flusses, eines Wasserfalles oder zumindest eines Bachlaufes.




Immer wieder kreuzen Ponies, Esel und Wasserbüffel unseren Weg. Regel Nr. 2 in den Bergen: Tieren im Gegenverkehr immer zur Bergseite hin ausweichen, sonst Absturzgefahr. Noch vor Mittag erreichen wir unser Tagesziel Ghorepani. Ein Dorf mit vielen Lodges und Hotels, die sich einem Treppenviertel gleich an den Berg schmiegen. Es gibt eine Buchhandlung, ein Basketballfeld und in unserem Speiseraum einen Ofen, an dem wir unsere nassen Sachen trocknen können.





TAG 3: Poon Hill/Ghorepani - Tadapani  4:30 am - Aufbruch im Dunkeln zum Poon Hill. Leider sind wir nicht die Einzigen, um zu diesem auf knapp 3300 Metern liegenden Aussichtspunkt zu pilgern. Das Mondlicht spiegelt sich in den noch nassen Stufen, die wir abermals unermüdlich erklimmen. Wir sind froh, dass der nächtliche Regen aufgehört hat und vielleicht lassen uns die Wolken doch den einen und anderen Ausblick auf die umliegenden Berggiganten erhaschen. Oben angekommen, versuchen wir uns die Dämmerungsstimmung von den vielen Leuten nicht verderben zu lassen und trinken mit unserem irischen Freund Scott feierlich einen Schluck Whiskey. Trotz heißem Tee ist es frisch hier oben, ohne Sonne und ohne Bewegung. 




Als die Sonne endlich den Himmel erobert, können wir tatsächlich die Spitzen von Annapurna South (7219 m), Dhaulagiri (8167 m) und Machhapuchare ("Fish Tail", 6993 m) sehen. Wahnsinn. Überwältigend. Ich wundere mich nicht, warum es in diesem Teil der Welt so viele Naturgottheiten gibt. Ohnehin erinnert mich das Erleben dieser extremen Abgelegenheit, die schwere Zugänglichkeit der Bergregionen, diese einmalige Kraft der Natur - die sich in den unfassbaren Ausmaßen der Berge, Flüsse, Täler und der eindrucksvollen Botanik zeigt - und nicht zuletzt die in den abgeschiedensten Winkeln wehenden Gebetsfahnen immer wieder an "Der Fremde Tibeter" von Eliot Pattison.





Nach der Rückkehr an unseren Ofen und einem warmen Frühstück brechen wir auf zum nächsten Ziel Tadapani. Durch den Wald, auf matschigem, steinigem Untergrund, über Baumwurzeln und durch Schlammpfützen. Wir überqueren einen Pass im Wolkennebel. Raju beschreibt unsere Strecke als "nepali flat", was so viel heißt wie "bergauf und bergab abwechselnd". Ich kenne das Grinsen schon.  Ich weiß, dass seine Angaben für zu erwartende Entfernungen immer stimmen. Wenn er sagt, es sind noch 20 Minuten Treppenstufen bergauf, dann stimmt es immer. Und ich weiß, wie ich meine Kräfte einzuteilen habe.




 Das erste Mal, dass wir unsere Regenjacken anziehen. Ein leichter Regen fällt unaufhörlich, doch außer einer kleinen Pause unter einem schützenden Dach können wir unseren Weg ganz normal fortsetzen. Ziegenherden und Lastenponies haben eindeutig Vorfahrt auf dem steinigen schmalen Pfad bergab. Auch Tadapani ist in Wolken gehüllt und bietet uns einen eher grauen Empfang. Immerhin einen wärmenden Ofen. Doch der Charme unseres Zimmers leidet leider auch unter der höhenbedingten Dauerfeuchte. Die Decken riechen muffig und feucht, das Holzbüdchen ist mehr als klamm. Bhai und Didi sehnen sich gleichermaßen nach dem zurückgelassenen eigenen Schlafsack. Offenbar nehmen unsere Bedürfnisse nach Sauberkeit und Wohlfühlkomfort mit zunehmender Höhe und fortschreitendem Erschöpfunsgrad auch zu. Zumindest haben wir Aussicht auf gute Aussicht am kommenden Morgen.




TAG 4: Tadapani - Jhinu Danda  Beim Zähneputzen erblicken wir einen kurzweiligen Ausschnitt der umliegenden Gipfel. Doch die Wolken sind um diese Jahreszeit eben doch die Herren der Lüfte. Wir verlassen freudig unser diesmal leider ungemütliches Quartier und machen uns bergab durch feuchten Wald auf Richtung Jhinu Danda, dort liegen die heißen Quellen am Fluss Modi Khola. Unterwegs auf dem matschigen Waldpfad warnt Raju uns davor, die Pflanzen am Wegesrand zu berühren. Grund sind die kleinen Blutegel, die sich von da gern in Schuhen und Socken einnisten. Mich scheinen sie allerdings nicht besonders attraktiv zu finden, Nahne dagegen sehr. Aber keiner schafft es, langfristig anzudocken.






Irgendwann lassen wir den Wald hinter uns und treten wieder ins Licht. Durchstreifen abwechslungsreiche Landstriche voller Mais- und Bohnenfelder, Hirseterrassen, vorbei an abgelegenen Bauernhäusern. Unter einem Feigenbaum zeigen wir unserem Freund aus Nepal, wie man die frischen Früchte isst. Erstaunlich, wir sahen viele Bäume auf dieser Etappe und die darunter liegenden reifen, rötlichen Feigen - doch scheinbar sind sie zum Essen hier nicht sehr gefragt.




 In Jhinu Dana empfängt uns eine herrliche Herberge mit trockenen Bettdecken. Wir verstauen unsere Rucksäcke in unserem rosa Zimmer und schlüpfen in Badesachen. Auf zu den "Hot Springs"! Wie gut, dass wir nicht vorher wussten, wie weit der Abstieg zu den direkt am Flussufer liegenden heißen Quellen ist. Bergab am Fluss entlang, durch tropisch anmutenden Wald, das Donnern des vom Berg kommenden Wassers in unseren Ohren. Unten angekommen, befinden sich die mit heißem Wasser gefüllten Becken direkt neben dem rauschenden Modi Khola, lediglich durch eine Betonmauer getrennt. Zum Umziehen halten zwei Wellblechkabinen her. Die direkt aus dem Fels ragenden dicken  Gummischläuche liefern die beste heiße Dusche seit Tagen!




 Die der Entspannung verfallenen Muskeln müssen uns leider wieder bergauf bringen. Es dauert nicht lange, und der Schweiß rinnt wieder. Egal, ein solches Bad ist es wert. Wir nehmen tapfer jede einzelne Stufe zurück zur Unterkunft, in aller Ruhe. Der Gedanke an ein kaltes Nepali Bier oben hilft. Das und ein leckeres Dal Bhat (nepalesisches Alltagsgericht) runden den Tag ab. Und eine Runde Kanasta mit Bhai, natürlich.




TAG 5: Jhinu Danda - Australian Camp  Vom rosa Zimmer aus gibt's als Morgengruß des nunmehr fünften Tages ein grandioses Bergpanorama aus dem Fenster. Noch vor acht Uhr sind auch wir wieder "am Berg", auf dem Weg nach Landruk. Raju verspricht uns, es gäbe dort die beste Pizza. Bis wir die erreichen, legen wir wieder viele Stufen zurück, bergauf wie bergab. Ein ehrwürdiges Danke an meine Knie, die mich noch keinen Tag im Stich ließen oder sich auch nur beklagten! 







Landruk entpuppt sich nach abermals 40 Minuten strammem Treppauf als charmantes Örtchen am Rande einer Bergflanke. Tatsächlich der erste Ort seit Beginn des Treks, zu dem eine Autostraße führt. Und wie zum Beweis höre ich vom Bergrücken gegenüber ein nicht vermisstes Geräusch: eine Straßenbaumaschine ackert am Hang. Die Akustik der Berge verstärkt das Geratter über das Tal hinweg. Wir arbeiten uns also wieder in die Nähe der Zivilisation. Hupen. Ein Landrover im Dorf. Und Pizza. Ich lasse sie mir schmecken, eine willkommene fettige Kalorienbombe nach all den Stufen.




Über Pothana wandern wir weiter zur letzten Station unserer Panorama-Runde: dem Australian Camp. Das Camp liegt auf einem Plateau und wir haben noch einmal einen unglaublichen Ausblick auf die grüne Terrassenlandschaft unter uns und ein weißes Gipfelpanorama im Hintergrund. Dazwischen die wahrscheinlich höchsten Wolkenskulpturen überhaupt. Ein Zeltplatz wie eine Aussichtsplattform liegt vor den Unterkünften am Rande des Plateaus - umrahmt von bunten Gebetsfahnen, die den schützenden Zaun verspielt umschlingen.


 TAG 6: Australian Camp - Astam - Pokhara  Wir haben eine unerwartet unruhige Nacht in unserer Herberge im Australian Camp. Mich ärgert ein nervöser Magen, Bhai plagt eine nächtliche Blutegelattacke. Ich glaube, in Wahrheit sind wir auch ein bisschen erschöpft von unserem strammen Programm der letzten Tage. Ungewohnte Bewegung und ungewohnt viel, ungewohnte Höhen, ungewohntes Klima, ungewohntes Essen, ungewohnte Gewohnheiten ... da dürfen auch die Nerven mal zur Dünnhäutigkeit neigen. 






Wir verabschieden uns vom herrlichen Plateau und treten unsere letzte Etappe an. Wir sind zum Mittagessen bei den Eltern von Rajus Chef in seinem Heimatdorf Astam eingeladen. Bis dahin wandern wir beschaulich durch Wald und Wiesen. Über eine letzte Reisterrasse gelangen wir zum Haus, wo wir schon erwartet werden. Vom klassischen Messinggeschirr gibt es ein köstliches Dal Bhat, touristisch entschärft wie ich vermute. Der Sohn trudelt auch noch ein, er war zu einem Bestattungsritual im Dorf. Er und der Onkel, der auch gerade zu Besuch war, begleiten uns auf unserem letzten Stück Weg, bergab. Natürlich über Stufen. Und jetzt erst lässt mein Knie ein Klagen verlauten.



Schließlich erreichen wir die Hauptstraße, wir befinden uns nun ein Stück östlich von Nayapul, unserem ursprünglichen Ausgangsort vor sechs Tagen - und wieder in der Welt des motorisierten Verkehrs angekommen. Im Taxi, das uns zurück nach Pokhara bringt, beschließen Bhai und Didi: Morgen gibt's Massage!