Donnerstag, 11. Februar 2016

Entschleunigung in Lagartillo

Am 10. Januar verabschiedete ich mich von Leon und machte mich von dort per Bus auf den Weg nach El Lagartillo - über El Sauce und Achuapa Richtung Norden, hoch in die Berge.

Von den "Hijos del Maiz" (übersetzt "Kinder des Mais") der Comunidad Lagartillo war ich bei den Busfahrern der Strecke von El Sauce nach Lagartillo schon angekündigt, brauchte mich also um das Erfragen und rechtzeitige Erkennen des kleinen Ortes nicht mehr sorgen. Nicaragua scheint wie eine große Familie, überall wirst du irgendwie aufgefangen und getragen ...



Ich ziehe ein in eine verhältnismäßig kleine Familie, meine "Gasteltern" sind ungefähr in meinem Alter und Luis ist auch Vegetarier - der entscheidende Anlass, mich in dieser Familie unterzubringen. Que suerte! ("Was für ein Glück!") Meine Familie sind für den  nächsten Monat nun Luis (58) und Ermelinda (45) mit ihren Jungs Camillo (23) und Nachzügler Julian (5). Die Tochter - Paloma (25) - lebt und arbeitet in der nächst größeren Stadt Esteli, zweieinhalb Stunden Busfahrt entfernt.

 In den Generationen vorher war es normal 5 bis 12 Kinder zu haben. Heute sind es auch eher zwei bis vier, das hängt allerdings auch sehr von Region und Bildungsstand ab. Und  natürlich ist die Familie die Basis, die Wurzel, der Grundstein allen Seins und Werdens. Entsprechend fremd erscheint natürlich, wenn ich erzähle, dass ich keine Kinder habe und  weder verheiratet war oder bin. Ich antworte ehrlich auf alle Fragen und das Interesse an diesem anderen Leben im fernen Europa ist zweifellos authentisch. Dann erzähle ich von meinem Bruder, dass wir zusammen wohnen. Warum ich keinen Vater im ersehnten Sinne habe. Dass ich ein "Patenkind" - meine "ahijada" -  habe,  über die ich mich sehr freue. Und dass meine "Comunidad" von Freunden auch meine Familie ist. Das verstehen die Menschen hier dann wiederum sehr gut.



Hermelinda und Luis sind seit 27 Jahren zusammen und fast genauso lange verheiratet. Für nicaraguanische Verhältnisse auch ein ungewöhnliches Paar, denn Luis kocht genauso oft und gut und wäscht auch seine Hemden selber. Denn ansonsten ist hier der Machismo noch sehr lebendig. Ich freue mich über interessante Gespräche und viel Neues, das ich hier im Alltag mitbekomme. Mit viel Wohlwollen und Respekt wurde ich hier aufgenommen und fühle mich sehr wohl in meinem neuen Kosmos.

 
 

Abgelegen in den Bergen - ab hier geht's nur noch zu Fuß oder auf dem Pferd weiter - ohne Autos, mit eingeschränkter Elektrizität, ohne Mobilfunkempfang geschweige denn Internet, finde ich mich plötzlich an einem Ort des Friedens wieder. Was für ein göttlicher Sternenhimmel, der mich vor Ergriffenheit fast weinen lässt - mit dem hellsten Vollmond, den ich bislang sah.



Der Hahn kräht, nein, die Hähne krähen. Alle Hähne des Dorfes. Gegen 4.30 Uhr beginnt das Spekatakel. Es ist noch nicht wirklich hell. Wie ein Rundruf: der erste Hahn beginnt, dann ertönt der nächste und danach ein weiterer und so weiter und so weiter  ... bis wieder der erste an der Reihe ist. Als ich halb wach, halb dämmernd in meinem Bett versuchte, diese Störenfriede auszublenden, entdeckte ich tatsächlich System in der allmorgendlichen Gnadenlosigkeit.



Je nach Yogabedürfnis und Beginn der ersten Unterrichtsstunde stehe ich aber "erst"  zwischen 6.30 und 7.30 Uhr auf. Doch es gilt den Tag zu nutzen, da um 18.00 Uhr die Sonne bereits wieder hinter den Hügeln verschwindet. Und ohne bzw. mit nur wenig Licht beschränken sich abendliche Tätigkeiten. Ganz abgesehen davon, dass ich müde bin und nicht viel später als der 5-jährige Bandido Julian ins Bett falle. Mit dem Kopf voller Spanischvokabeln und täglich völlig neuen Eindrücken.



Doch für alles zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang habe ich Zeit. Nichts drängt, drängelt oder zwingt mich zu irgendeiner Beschleunigung (außer ich selbst). Ich habe zwischen Montag und Freitag nur die eine Verabredung zum Spanischunterricht, zwei Stunden am Vormittag, zwei Stunden am Nachmittag. Und auch hier gebe ich das Tempo vor, schließlich genießen alle Sprachschüler der "Hijos del Maiz" Einzelunterricht bei wechselnden Lehrern.


Wasserholen ist auch hier Frauensache ;-)
 

Das Wasser für die Dusche muss erst den Baum hoch ;-)
La cocina - Die Küche

Morgens kann ich in aller Ruhe meine Yogamatte in einer der vor der Haustür liegenden Unterrichts-Cabanas ausrollen (in Wahrheit funktioniert nur die größte Cabana gut, da die anderen für meine Armlänge über dem Kopf zu niedrig sind). Vor acht Uhr ist keine der Hütten belegt. Danach geht's unter die Outddoor-Dusche, dann darf ich ein vorbereitetes Frühstück genießen um anschließend zum Unterricht rüberzugehen.


Ich kann das Ausmaß des "Zeithabens" irgendwie nicht ganz erfassen und begreifen. So wenig, um das ich mich zu "kümmern" habe - außer mich selbst ;-)

Das Alleinreisen, auch das ab und zu unvermeidbare Fremdsein inmitten einer in sich geschlossenen Kultur, genieße ich sehr intensiv - Fremdeln und sich ausgeschlossen fühlen sind vorbei ziehende Wolken, ich erlebe so viel Herzlichkeit, Offenheit und Hilfsbereitschaft. Das Bedürfnis, mich mit meinen eigenen Worten ausdrücken und mitteilen zu können, füttere ich mit diesen Zeilen. Natürlich misse ich die Fähigkeit, mich diesen so sympathischen Menschen und meiner Familie hier in Lagartillo mehr zeigen zu können. Doch ich bin voller Zuversicht. Nicht nur in Bezug auf mein Leben und Erleben hier in Lagartillo. Ich genieße die unvorhergesehene Freiheit, darauf vertrauen zu können, dass sich alles zu meinem besten fügt (Danke, Amit!). Das ist möglich, weil ich mir hier so viel Zeit zum Ankommen, Aklimatisieren und Eingewöhnen erlaube, wie es eben braucht. Und weil ich ein Mensch bin (jetzt muss ich an Rio denken .... " und mein Name ist MENSCH ...."), der ein bisschen Zeit braucht, um sich neuen Umgebungen und neuen Menschen zu nähern. Und alles ist gut. Ich erlebe so viele banale Situationen und Begegnungen, die mich sehr berühren und mir erlauben, zu einem Teil dieser fremden Welt zu werden.

Die "Klassenzimmer" - die Cabanas der "Hijos del Maiz"
 

Ich lasse Lust und Laune entscheiden, was ich tun und lassen möchte. Was erlebt werden will. Und vielleicht genau deshalb mag ich - ohne Druck und Drang - diese Zeilen schreiben.




1 Kommentar:

  1. Ich war 2006 das erste Mal eine Woche in El Lagartillo und einige Jahre später nochmals auf der Durchreise. Es war so schön, die Dorfgemeinschaft zu erleben, Strom gab es nur im Gemeinschaftshaus, Geburtstage wurden gemeinsam gefeiert, abends zu Gitarrenmusik gesungen. Das Dorf wehrte sich damals sogar, ans Stromnetz angeschlossen zu werden.

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