Am Freitag, den 16. September packen Nahne und ich unsere Wanderrucksäcke. Wir sortieren, überlegen und entscheiden, was muss mit? Was soll und was darf, darf nicht mit? Der Rest unseres Gepäcks bleibt so lange in unserer Herberge in Pokhara. Ich merke eine angenehme Aufregung, ich schätze es ist die aus dem Dornröschenschlaf auferstandene Abenteuerlust. Lange habe ich sie vermisst. Doch jetzt traut sie sich zurück und ich freue mich auf ein besonderes Abenteuer gemeinsam mit Bhai.
TAG 1: Nayapul - Ulleri Am Samstagmorgen geht es mit dem Taxi erst mal hinaus aus der Stadt Richtung Westen. Unser Guide heißt Raju, ist Anfang dreißig und uns gleich sehr sympathisch mit seinem verschmitzten Lächeln. Prima, wenn die Jungs sich verstehen, dann hab ich kein schlechtes Gewissen, wenn sie gelegentlich auf die Fotografin warten müssen. Ungefähr eineinhalb Stunden arbeiten wir uns über eine vom Erdbeben immer noch stark angeschlagene Straße nach Nayapul. Dort gibt es noch einen leckeren Nepali Tee, und dann starten wir.
Wir überqueren eine breite Brücke über einen tosenden Fluss, passieren einen Ort namens Birethanti zum Einchecken auf den Trek, und finden uns dann bereits auf einem Schotterweg bergauf wieder. Wie verschluckt vom monströsen Getose des aus den Bergen herabstürzenden Wassers und des lautesten Zikadengesangs, den ich je hörte. Step by step - im allerwahrsten Sinne! - erklimmen wir Tausende von Stufen auf unserer heutigen ersten Etappe. Begleitet von eindrucksvollen Aussichten auf eine uns fremde Welt, Begegnungen mit Dorfbewohnern, Ponies, Kindern und Hühnern, Reisfeldern, unerwartet vielen Blumen, Hängebrücken und wundervollen Wolkengebilden.
Wasser- und Atempausen nutzen wir immer gern für einen interessanten Plausch mit Raju. Er weiß viel über sein Land und erzählt gern von Lebensart, Gewohnheiten und Ritualen der Nepali. Und er ist auch Erfinder unserer neuen Spitznamen. In Nepal gibt es für jedes Familienmitglied eine bestimmte Bezeichnung, und nachdem er erfuhr, dass wir Geschwister sind, hieß es nur noch Bhai (für jüngerer Bruder) und Didi (für ältere Schwester). Ich habe beim Einkaufen auf dem Markt in Tadapani tatsächlich heraushören können, dass der jüngere Bruder seine ältere Schwester mit "Didi" anspricht, nicht mit Namen. Und das Leben als jüngerer Bruder einer älteren Schwester teilen die Jungs nun gemeinsam - es gibt viel zu Lachen!
Eine Regel in den Bergen, die wir von Raju lernen: Da, wo man schläft, isst man auch. Als wir in unserer rosafarbenen Herberge in Ulleri ankommen, haben wir 500 Höhenmeter hinter uns. Meine Oberschenkel brennen, ich bin froh um jedes Gramm, das ich NICHT noch mit in meinen Rucksack gepackt habe. Und ich bin froh, dass wir die ganzen Stufen heute schon erklommen haben - die Schweiß treibenden Steintreppen erinnern mich sehr an Sri Lankas Adam's Peak. Unter den dicken Steppbettdecken fallen mir noch vor neun Uhr die Augen zu. Der Wecker steht auf sechs.
Immer wieder kreuzen Ponies, Esel und Wasserbüffel unseren Weg. Regel Nr. 2 in den Bergen: Tieren im Gegenverkehr immer zur Bergseite hin ausweichen, sonst Absturzgefahr. Noch vor Mittag erreichen wir unser Tagesziel Ghorepani. Ein Dorf mit vielen Lodges und Hotels, die sich einem Treppenviertel gleich an den Berg schmiegen. Es gibt eine Buchhandlung, ein Basketballfeld und in unserem Speiseraum einen Ofen, an dem wir unsere nassen Sachen trocknen können.
TAG 3: Poon Hill/Ghorepani - Tadapani 4:30 am - Aufbruch im Dunkeln zum Poon Hill. Leider sind wir nicht die Einzigen, um zu diesem auf knapp 3300 Metern liegenden Aussichtspunkt zu pilgern. Das Mondlicht spiegelt sich in den noch nassen Stufen, die wir abermals unermüdlich erklimmen. Wir sind froh, dass der nächtliche Regen aufgehört hat und vielleicht lassen uns die Wolken doch den einen und anderen Ausblick auf die umliegenden Berggiganten erhaschen. Oben angekommen, versuchen wir uns die Dämmerungsstimmung von den vielen Leuten nicht verderben zu lassen und trinken mit unserem irischen Freund Scott feierlich einen Schluck Whiskey. Trotz heißem Tee ist es frisch hier oben, ohne Sonne und ohne Bewegung.
Nach der Rückkehr an unseren Ofen und einem warmen Frühstück brechen wir auf zum nächsten Ziel Tadapani. Durch den Wald, auf matschigem, steinigem Untergrund, über Baumwurzeln und durch Schlammpfützen. Wir überqueren einen Pass im Wolkennebel. Raju beschreibt unsere Strecke als "nepali flat", was so viel heißt wie "bergauf und bergab abwechselnd". Ich kenne das Grinsen schon. Ich weiß, dass seine Angaben für zu erwartende Entfernungen immer stimmen. Wenn er sagt, es sind noch 20 Minuten Treppenstufen bergauf, dann stimmt es immer. Und ich weiß, wie ich meine Kräfte einzuteilen habe.
Das erste Mal, dass wir unsere Regenjacken anziehen. Ein leichter Regen fällt unaufhörlich, doch außer einer kleinen Pause unter einem schützenden Dach können wir unseren Weg ganz normal fortsetzen. Ziegenherden und Lastenponies haben eindeutig Vorfahrt auf dem steinigen schmalen Pfad bergab. Auch Tadapani ist in Wolken gehüllt und bietet uns einen eher grauen Empfang. Immerhin einen wärmenden Ofen. Doch der Charme unseres Zimmers leidet leider auch unter der höhenbedingten Dauerfeuchte. Die Decken riechen muffig und feucht, das Holzbüdchen ist mehr als klamm. Bhai und Didi sehnen sich gleichermaßen nach dem zurückgelassenen eigenen Schlafsack. Offenbar nehmen unsere Bedürfnisse nach Sauberkeit und Wohlfühlkomfort mit zunehmender Höhe und fortschreitendem Erschöpfunsgrad auch zu. Zumindest haben wir Aussicht auf gute Aussicht am kommenden Morgen.
TAG 4: Tadapani - Jhinu Danda Beim Zähneputzen erblicken wir einen kurzweiligen Ausschnitt der umliegenden Gipfel. Doch die Wolken sind um diese Jahreszeit eben doch die Herren der Lüfte. Wir verlassen freudig unser diesmal leider ungemütliches Quartier und machen uns bergab durch feuchten Wald auf Richtung Jhinu Danda, dort liegen die heißen Quellen am Fluss Modi Khola. Unterwegs auf dem matschigen Waldpfad warnt Raju uns davor, die Pflanzen am Wegesrand zu berühren. Grund sind die kleinen Blutegel, die sich von da gern in Schuhen und Socken einnisten. Mich scheinen sie allerdings nicht besonders attraktiv zu finden, Nahne dagegen sehr. Aber keiner schafft es, langfristig anzudocken.
Irgendwann lassen wir den Wald hinter uns und treten wieder ins Licht. Durchstreifen abwechslungsreiche Landstriche voller Mais- und Bohnenfelder, Hirseterrassen, vorbei an abgelegenen Bauernhäusern. Unter einem Feigenbaum zeigen wir unserem Freund aus Nepal, wie man die frischen Früchte isst. Erstaunlich, wir sahen viele Bäume auf dieser Etappe und die darunter liegenden reifen, rötlichen Feigen - doch scheinbar sind sie zum Essen hier nicht sehr gefragt.
TAG 5: Jhinu Danda - Australian Camp Vom rosa Zimmer aus gibt's als Morgengruß des nunmehr fünften Tages ein grandioses Bergpanorama aus dem Fenster. Noch vor acht Uhr sind auch wir wieder "am Berg", auf dem Weg nach Landruk. Raju verspricht uns, es gäbe dort die beste Pizza. Bis wir die erreichen, legen wir wieder viele Stufen zurück, bergauf wie bergab. Ein ehrwürdiges Danke an meine Knie, die mich noch keinen Tag im Stich ließen oder sich auch nur beklagten!
Landruk entpuppt sich nach abermals 40 Minuten strammem Treppauf als charmantes Örtchen am Rande einer Bergflanke. Tatsächlich der erste Ort seit Beginn des Treks, zu dem eine Autostraße führt. Und wie zum Beweis höre ich vom Bergrücken gegenüber ein nicht vermisstes Geräusch: eine Straßenbaumaschine ackert am Hang. Die Akustik der Berge verstärkt das Geratter über das Tal hinweg. Wir arbeiten uns also wieder in die Nähe der Zivilisation. Hupen. Ein Landrover im Dorf. Und Pizza. Ich lasse sie mir schmecken, eine willkommene fettige Kalorienbombe nach all den Stufen.
Über Pothana wandern wir weiter zur letzten Station unserer Panorama-Runde: dem Australian Camp. Das Camp liegt auf einem Plateau und wir haben noch einmal einen unglaublichen Ausblick auf die grüne Terrassenlandschaft unter uns und ein weißes Gipfelpanorama im Hintergrund. Dazwischen die wahrscheinlich höchsten Wolkenskulpturen überhaupt. Ein Zeltplatz wie eine Aussichtsplattform liegt vor den Unterkünften am Rande des Plateaus - umrahmt von bunten Gebetsfahnen, die den schützenden Zaun verspielt umschlingen.
Wir verabschieden uns vom herrlichen Plateau und treten unsere letzte Etappe an. Wir sind zum Mittagessen bei den Eltern von Rajus Chef in seinem Heimatdorf Astam eingeladen. Bis dahin wandern wir beschaulich durch Wald und Wiesen. Über eine letzte Reisterrasse gelangen wir zum Haus, wo wir schon erwartet werden. Vom klassischen Messinggeschirr gibt es ein köstliches Dal Bhat, touristisch entschärft wie ich vermute. Der Sohn trudelt auch noch ein, er war zu einem Bestattungsritual im Dorf. Er und der Onkel, der auch gerade zu Besuch war, begleiten uns auf unserem letzten Stück Weg, bergab. Natürlich über Stufen. Und jetzt erst lässt mein Knie ein Klagen verlauten.
Schließlich erreichen wir die Hauptstraße, wir befinden uns nun ein Stück östlich von Nayapul, unserem ursprünglichen Ausgangsort vor sechs Tagen - und wieder in der Welt des motorisierten Verkehrs angekommen. Im Taxi, das uns zurück nach Pokhara bringt, beschließen Bhai und Didi: Morgen gibt's Massage!
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